<< Zurück

Eva Scheppke

Lernen � ohne Schule

Beobachtungen einer Mutter

Nie mehr in seinem Leben ist der Mensch so voller Wi�begierde und Neugierde wie in seinen ersten Lebensjahren. Alle, die f�r Kinder verantwortlich sind, sollten deshalb eine ganz besondere Aufgabe darin sehen, die Kinder in ihrem Lerneifer zu unterst�tzen und ihre Freude am Lernen zu erhalten. Statt dessen gibt es seit einigen Jahren ein �berangebot an �Lernspielen�, es gibt �wissenschaftlich ausgearbeitete Pl�ne�, die auch schon dem Kleinkind vorschreiben wollen, welche Lernschritte es zu absolvieren hat. Kleine Kinder lassen sich aber nicht vorschreiben, was sie lernen wollen. Sie wollen selbst bestimmen, womit sie sich gerade jetzt besch�ftigen, wie lange sie mit etwas umgehen und wie umfangreich die Information sein soll. Kinder brauchen keine teuren Lernspiele. Sie sind aber angewiesen darauf, da� sie Eltern haben, die ihre Fragen beantworten. Deshalb haben wir eine Mutter gebeten, uns von den Erfahrungen mit ihrem Sohn zu berichten. D.R.

�Mama, du fragst jetzt immer, und ich rate, z.B.: Was ist zwei und zwei? oder: drei und drei? bitte!� Dieses Rechen-Ratespiel erfand mein Sohn, kurz nachdem er z�hlen lernte, seither wird es regelm��ig gew�nscht und st�ndig erweitert. �Schau mal, das sieht ja wie ein Buchstabe aus!� � das Kind zeigt auf irgendeine zuf�llig in der Umgebung entstandene Zeichnung oder Form. Das Interesse f�r Zeichen aller Art in der sozialen Umgebung beobachten wir bei unseren Kindern schon lange vor der Einschulung. �Das kann man sich gar nicht vorstellen, da� die Erde rund ist!� �Was tut ein Rechtsanwalt?� �Was ist erben�? F�r ihr Staunen und Suchen nach Erkl�rungen und Begr�ndungen k�nnten wir zahllose Beispiele anf�hren.

Grenzenlose Neugier

All diese Fragen, und noch viel mehr, ja grenzenlos scheinende Neugier und zugleich st�ndig fortschreitendes Begreifen der Umwelt, diese Haltung und F�higkeit unserer Vorschulkinder beeindruckt nicht nur mich, sondern viele Eltern und Erzieher. Gibt es denn gar nichts, was das Kind nicht wissen will � was es nicht lernen m�chte? Eine wagemutige Frage! Ich will sie trotzdem stellen. Und ich will sie als Leitfaden benutzen, wenn ich im folgenden meine Beobachtungen und Eindr�cke schildern werde. Der Leser m�ge keine wissenschaftliche Studie erwarten, kein allgemeing�ltiges Ergebnis oder Konzept zum Thema �Lernen � ohne Schule�; ich m�chte zeigen, wie wir auf dem Weg des genauen Hinsehens und Hinh�rens im Zusammensein mit Kindern erfahren, wie sie lernen, wann sie lernen, was sie lernen, warum sie lernen, wozu ihnen das Lernen dient, wohin sie es f�hrt. Wir wollen auch die Entwicklungsschritte und Zeitabst�nde beim Lernen beachten. Aus diesen Erkenntnissen, die wir der konkreten Erlebniswelt des j�ngeren Kindes entnehmen, k�nnen wir dann etwas gewinnen f�r den sp�teren Lebens- und Lernweg des Menschen, seine Schulzeit, das wissenschaftliche Arbeiten des Erwachsenendaseins.

Die Lernwut meines Sohnes h�lt mich auf Trab.

Nun also gleich zur allt�glichen Situation im Zusammensein von Erwachsenen mit Kindern: So habe ich sie erlebt, erlebe sie noch: Fragen, Unterhaltungen, Besch�ftigungen, Szenen konfrontieren mich schier pausenlos mit dem Erleben und Denken meines Kindes, versetzen mich in Staunen, belustigen mich, verlangen Antworten von mir, halten mich regelrecht in Trab; es ist richtig anstrengend; mir begegnet die reinste Lernwut. �Schreib mal �Matthias�!� �Ist acht mehr als elf?� Beim Beobachten von im Schnee startenden Autos: �Schau, der hat die Antriebsr�der hinten!� �Ist Gold so wertvoll, weil es so gl�nzt?� Unvermittelt beim Spaziergang: �Seit wann gibt es Geld?� �Das ist aber komisch, da� in Hundert ein Einser und zwei Nuller sind!� Bei einem Gespr�ch nach einer Auseinandersetzung: �Einmal am Tag mu� ich auch mal b�s sein!� Nach dem Kindergarten: �Das war ein richtig sch�nes Gef�hl, den Clemens zu tr�sten�; oder: �es macht mir Spa�, die Kleineren zu besch�tzen�. Au�erdem beobachte ich Neugierde, die sich nicht in verbalen Fragen �u�ert oder durch Reden befriedigen l��t: wenn ein Kind etwa mit meiner K�chenwaage experimentiert; oder: das Trommeln auf Putzeimern oder Klimpern auf meiner Gitarre; oder: das Pflanzen und Begie�en von Blumen oder Gem�se; oder: beim Arztbesuch oder: das Verteilen einer begrenzten Anzahl von Keksen unter die Spielkameraden ... stets die gleiche Wi�begier und das Aufsaugen von neuen Erfahrungen. Hier noch einige �Perlen� aus meinen notierten Beobachtungen: Wir sind im Schwarzwald �ber dem herbstlichen Nebelmeer: �So sieht das dann im Flugzeug aus, wenn man �ber den Wolken fliegt, deswegen will ich endlich mal mit dem Flugzeug fliegen, ich will das selbst erfahren� (6 Jahre). In gem�tlicher Adventsatmosph�re nach einer Minute konzentrierter Stille pl�tzlich mein Sohn (6 Jahre � noch vor der Einschulung � das Zahlensystem ist ihm nur teilweise klar): �Soll ich dir mal sagen, wieviel hundert Halbe gibt?� (Man mu� wissen: halbieren und verdoppeln sind zur Zeit beliebte Spiele; das Kind wei� noch nichts mit der Zahl f�nfzig anzufangen, aber mit 100.) Ich: �Ja?� � �5mal zehn Ganze, weil, wenn zehnmal zehn hundert gibt, dann ist die H�lfte davon 5mal zehn, weil 5 die H�lfte von zehn ist!�� W�hrend einer Fahrt durch die Landschaft spontan: �Ich wei�, was der Gott ist: alles in der Natur.� Gespr�ch �ber die Bedeutung der W�rter �verzichten� und �nicht wollen�: �Verzichten ist, wenn man was will, aber nix tut. Wenn man nix will, dann will man halt nix.�

Die Kinder lernen auch ohne uns Erwachsene

Aus dem, was ich bei meinem vier- bis siebenj�hrigen Kind wahrgenommen habe, m�chte ich folgende Folgerungen zur Diskussion stellen: Erstens: Das Lernen des Kindes macht unaufh�rlich Fortschritte. Das Kind hat ein Interesse am Wissen, Verstehen, Denken, an zielgerichtem, vern�nftigem Handeln, an Reflexion �ber Gef�hle, �ber soziales Verhalten, �ber die Umgebung � � das nie endet, im Gegenteil immer weiter ausgreift. Die gewonnenen Erkenntnisse, beispielsweise im Bereich der Zahlen oder der Sprache, f�hren zu immer neuen Fragen, zu komplizierteren �berlegungen, zu tieferem Erforschen. Es scheint noch kein Vergessen zu geben, der �Erkenntnisberg� w�chst stetig. Zweitens: Dies Lernen geschieht auf sehr mannigfaltige Arten: durch In-die-H�nde-Nehmen, Sehen, durch Experimentieren, durch Nachahmen, durch Fragen, Nachdenken; es vollzieht sich im Dialog, beim Nachschlagen, beim spontanen Handeln und beim reflektierten Handeln, im Erleben � � und alles spielend (in doppeltem Sinne!). Es geschieht mit andern Menschen, aber auch ganz ohne sie, zusammen mit Kindern oder mit Erwachsenen, in der Natur, oder mitten in der sozialen, in der von Menschenhand geschaffenen, in der technischen Umgebung; wir sehen Kinder lernen an Gegenst�nden, die sie (be-)greifen, wir sehen dies Lernen auch, wenn das Kind ganz bei sich selbst ist, �nur� bei seinem K�rper, seiner Gef�hlswelt, bei seiner Denkf�higkeit. Da kann es nie langweilig werden! Drittens: Das Kind fragt selbst oder handelt selbst. Es ist nicht so, da� wir Gro�en dem Lernenden die Anst��e geben m�ssen. Aus ihm heraus dr�ngen der Wille zur Auseinandersetzung mit der Umgebung, und das Pendel des Verstehens schwingt stetig in flottem Tempo zwischen dem kleinen Menschen und der Umwelt hin und her. Viertens: Das Lernen passiert in der Begegnung mit der sichtbaren, h�rbaren, (nicht) verstehbaren, (un-)denkbaren Welt. Die Fragen entstehen also schon durch das Vorhandensein der Welt. Das Leben als aktives Sein des Menschen veranla�t ihn zum Lernen, nicht erst ein Lernprogramm, ein von Erwachsenen ausgedachtes System schulischer Methoden. Zu dieser Umwelt als Objekt und Veranlasser der Erkenntnis z�hlt auch das eigene Ich. F�nftens: Die Erfahrungen und Fortschritte des Kindes umfassen alle Lerngebiete: Neben den f�r uns eher selbstverst�ndlichen k�rperlichen und manuellen, den affektiven und sozialen F�higkeiten stehen auch alle Bereiche des Wissens und Denkens. Es geh�ren dazu: Sprache und Schrift, Zahlen und Rechnen, Naturwissenschaften und Technik, Geschichte, Politik, Gesellschaft, Familie, Gott und Religion. Das Erlernen der E�manieren, eines Instrumentes samt Notenschrift, verschiedener Sportarten usw. brauche ich nicht so sehr zu erw�hnen.

Politik als Wissensgebiet f�r kleine Kinder?

Da ich f�r den doch recht anspruchsvollen Bereich der �Politik� noch kein Beispiel gegeben habe, m�chte ich an dieser Stelle folgenden Ausschnitt eines Gespr�chs wiedergeben; dabei unterhielt ich mich mit einem erwachsenen Gespr�chspartner �ber die �Reichskristallnacht� und das Problem der Verj�hrung: Ich: �Die Familie W. ist der Meinung, die Verfolgung und Ermordung der Juden sei f�r uns heute nicht mehr so wichtig, da das vergangen sei.� Mein Sohn �Warum meint sie das?� Ich: �Sie meint, man k�nne das Vergangene vergessen. Ich meine dagegen, es ist n�tig, sich daran zu erinnern, damit wir in Zukunft nicht solches Unrecht mehr tun.� Mein Sohn: �Vielleicht meinen die das so: es vergessen, damit niemand daran denkt, da� man so was machen kann.� Diese Art zu lernen hat Vor- und Nachteile. Da� unsere Kinder spontan und intelligent sind, ist f�r uns Freude und Motivation, sie anzuregen und sich entfalten zu lassen. Wir sollten uns immer wieder �berlegen, f�r welche Ziele und auf welche Art wir diese F�higkeiten der Kinder �er-ziehen� k�nnen und sollen: Das Positivste an dieser Lernmethode scheint mir die bleibende Lernfreude zu sein. Ich glaube, so lange Neugier und Spa� des Kindes nicht durch unser falsches Verhalten erstickt werden, wird der junge Mensch nicht aufh�ren zu lernen und zu arbeiten. Dazu kommt, da� dieses Lernen lebensorientiert bleibt, praktisch und n�tzlich; es hilft beim Handeln, es dient eben dem Leben des Menschen, auch seiner Umgebung. Durch die h�chst selbstt�tige Art, zu fragen und zu erfahren, werden Obers�ttigung mit entsprechender Verge�lichkeit oder Oberfl�chlichkeit, ebenso seelische Belastung vermieden. Das Wissen-Wollen bleibt auf das beschr�nkt, was dem Individuum wichtig erscheint. Wegen der vielseitigen Lebenserfahrungen wird ein allzufr�h spezialisiertes Wissen oder �Schubfach�-Denken vermieden. Es entstehen im Denken Querverbindungen, die den Horizont des Kindes st�ndig erweitern. Das Denken im einen Bereich hilft ihm auf anderen Gebieten. Auf diese Weise lernt der Mensch letztlich f�r jede Situation, wie man lernt, wie man zu Wissen und L�sungen kommt, sowohl im praktischen Leben als auch in theoretischen F�higkeiten. So wunderbar jedem von uns diese Palette von Vorteilen erscheint, wir d�rfen nicht �bersehen, da� auch diese �Lern- und Lebensart� � eine, die neben der Schule passiert � mit Nachteilen verbunden, wenigstens an nicht immer vorhandene Voraussetzungen gekn�pft ist, n�mlich: Die Eltern wissen nicht alles, und die Umgebung vieler Kinder ist zu begrenzt, um alle ihre F�higkeiten anzuregen; so bleiben L�cken bestehen. Besonders problematisch sind folglich die ungleichen Chancen aufgrund des verschiedenen Milieus der Familien. Manche Wissensgebiete, z.B. Philosophie, alte Sprachen oder auch sehr abstrakte Geistesgebiete, fallen vermutlich ganz flach. Da beim Lernen in der �nat�rlichen Umgebung� kein Erfordernis besteht, auch ohne Erkenntnis des Zieles oder auch ohne den eigenen Wunsch (zielgerichtet) zu denken, gibt es niemand, der die Kinder zu Konzentration, Selbstdisziplin beim Arbeiten, eben zu entsprechender Arbeitshaltung anleitet. M�glicherweise kommt neben dem reinen �Lustprinzip� die Notwendigkeit der Pflichterf�llung zu kurz.

� und die Kinder brauchen uns Erwachsene dennoch!

Dieses Lernen ist zun�chst ungeordnet, und der Lernende mu� sich selbst ein Raster schaffen, um sein wachsendes Wissen einzuordnen. So wird es schwierig sein, dem Kind zu einem systematischen Lernen zu verhelfen. Nicht zuletzt wegen all dieser M�ngel, aber mindestens so sehr wegen der Vorteile solchen Lernens m�ssen wir uns die Frage stellen, wie wir unseren Kindern helfen k�nnen, d.h., wie wir die Chancen unserer Kinder belassen und vergr��ern k�nnen. Vor allem kommt es auf unsere Art zu reagieren an: Wir k�nnen gelangweilt, unlustig, ja auch falsch auf fragen antworten; manchmal machen wir den Fehler, unser Desinteresse an einer Sache, die das Kind zun�chst spannend fand, zu bekunden. Dies �bertr�gt sich auf das Kind. Oft sind wir auch zu bequem, unser eigenes Wissen z. B. durch Nachschlagen zu erweitern. Wenn wir dagegen selbst noch wissen und lernen woll(t)en, w�re alles gewonnen: wir sind aufmerksame Zuh�rer, eben auch Lernende, Antwortende, Fragende. Es entstehen Diskussionen; wir selbst geben unsere Freude und Neugier dem Kind weiter; die Kreativit�t der Kinder kann uns anstecken. Es entstehen Kreise von Erfindergeist, von phantastischen Ideen und Erkenntnissen in der Interaktion zwischen Kind und Erwachsenem. Die Einstellung des Kindes, da� ihm die Welt offensteht und da� es sogar die Realit�t �bersteigen kann, bleibt erhalten. Es hat gelernt zu lernen � was k�nnte ihm Besseres geschehen f�rs Leben? Und dies liegt in unserer Verantwortung!

Quelle: �kindergarten heute� Ausgabe 2/1979, Seite 51-54

 

 

Therapie | Fortbildungen | Werdegang | Aktuelles | Home

Sie finden die künstlerische Internetseite von Eva Weißmann hier: www.wearewe.de.

Eva Weißmann - Telefon: 0761 - 70779911 - weareweevaTTT@web.de

Impressum | Datenschutz