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Kinästhetische Konzepte - Ergänzung
Shusterman ist Professor der Philosophie an der Florida Atlantic University in den USA und will eine Philsosophie der Körperbewußtheit in die westlichen Gesellschaften bringen. Dafür hat er sein Konzept der „Somaesthetics“ entwickelt, ein Körperlernen und eine Leibesästhetik. Er selbst nennt sein jahrzehntelanges Projekt “ein Pionierfeld, das dem Denken mit dem Instrument des Körpers gewidmet ist ”. Er befaßt sich nicht mit Kindern, sondern allgemein mit unserer Kultur, die das Spüren des Körpers, der Bewegung und damit von Aktionen abgespaltet hat. Dies demonstriert er mit einer Reise durch die westliche Philosophiegeschichte und bringt die Philosophie mit dem Wissen über kinästhetische Wahrnehmung zusammen, am deutlichsten in seinem Buch „Body Consciousness“. (Shusterman 2008) Zum Vergleich zieht er die alten asiatischen Weltanschauungen, die der Antike und aktuelle kinästhetische heran. (Shusterman 2008: xiii, 17 ff., 42, 162) Für die nötigen Weiterentwicklungen unserer Hemisphäre, für das Glück und die Zentrierung der Menschen sowie die dringende Lösung der Weltprobleme hält er die Inkorporation propriozeptiver und kinästhetischer Kompetenzen und Lebensstile für dringend geboten. So wie Bainbridge Cohen von Thomas Hannas Verwendung des Wortes SOMA den Begriff SOMATIZATION ableitete, bildete er das Wort SOMAESTHETICS, übersetzbar mit: Lehre der Leibwahrnehmung, Soma-Schulung, Somaforschung. (s. Abschnitt c) Es fällt die parallele Wortbildung zu „Kin-Aesthetics“ auf. Leider unterscheidet Shusterman oft nicht zwischen soma/Körper oder Leib und kinesis/Bewegung. Warum ich diese Differenzierung für unser Thema “Lernen” als notwendig erachte, darüber lesen Sie detaillierter am Ende dieses Kapitels.
In früheren Veröffentlichungen schrieb Shusterman zu ästhetischen Fragen, zur Philsosophiegeschichte, zu Erziehung und Selbstwerdung, darunter eine vergleichende Analyse der Methoden von Ferdinand Matthias Alexander, von Moshé Feldenkrais und der Bioenergetik. (Shusterman 1997, Shusterman 2000a, Shusterman 2000b) Die von mir genauer betrachtete Veröffentlichung „Body Consciousness“ ist für die Menschen in Europa und in den USA hinsichtlich ihrer gegenwärtigen Kultur und ihres Lebensstils lehrreich, weil er sich hier mit früheren und heutigen Philosophien des Körpers auseinandersetzt und weil er praktische Anregungen aus den östlichen Traditionen der Körperwahrnehmung, darunter der Zen-Meditation, dem No-Theater und der Weisheit des Alten China gibt. Dabei sind die Texte Shustermans spürbar von seiner eigenen Leibeserfahrung durchdrungen. Er war ein Jahr in der strengen Lehre eines Zen-Klosters, er ist Praktizierender der Alexandertechnik und der Feldenkrais-Methode und kennt sich in Bioenergetik aus. Als Feldenkrais-practitioner hat er die wissenschaftlichen und philosopischen Reflektionen in diesem Feld beeinflußt und tritt als gefragter Referent auf Symposien auf. Seine praktische Körperfahrung und sein theoretisches Wissen dienen ihm als Folie für ganz ungewohnte Perspektiven auf die Philosophien von Michel Foucault, Maurice Merleau-Ponty, Simone de Beauvoir, Ludwig Wittgenstein, William James und John Dewey. Er betrachtet sie mit den Fragen: Was haben sie zum Wissen über den Körper und die menschliche Bewusstheit beizutragen? Welche historische Bedeutung für das Lernen, die Kultur, die Tradition und das menschliche Dasein kann man ihnen beimessen? Gewinnen wir aus ihrem Denken eine praktische Lebenshilfe? Er wägt die positiven Einflüsse auf unser Körperbild ab und analysiert, wie die Einstellung dieser Philosophen zum Körper für unsere Zukunft einem gerechten und ethischen Fortschritt dient.
Ich gehe hier kurz auf Shustermans Analysen zu Foucault, Beauvoir und Wittgenstein ein und befasse mich weiter unten ausführlicher mit seinem Kapitel über Dewey, da dieser im Kontext von Ferdinand Matthias Alexander und Moshé Feldenkrais von Interesse ist.
Im Kapitel über Foucault hebt er hervor, daß dieser zwar dem Körper und dem Ästhetischen große Wertschätzung zollt, kritisiert jedoch, moralisiert aber nicht, dessen Radikalität und gewalttätigen Sensationalismus und berurteilt diese als mechanistisch und äußerlich. Foucault ist bekannt als starker Verfechter von körperlichen Vergnügungen. Shusterman anerkennt zwar, daß Foucault diese keineswegs auf die Sexualität eingrenzt, bemängelt aber, daß er sie nicht ausweitet auf die Freude an purer klarer Wahrnehmung, auf die Realitätserfassung und auf eine differenzierte Bewußtheit. Natürlich bemerkt Shusterman auch, ob es nicht doch noch mehr gibt als „pleasure“. Er hinterfragt die Wege, die Foucault wählte, etwa Drogen und sadomsochistischen Sex. Hier geht es wieder nicht um Moral oder Konvention, sondern hier verfehlt Foucault sein hohes Ziel der Befreiung. Daran ist aktuell für uns lehrreich: Shusterman plädiert immer wieder für somatische Bewußtheit und Disziplin - im Vergleich zu banaler Verehrung des Körpers und eines Körper-Zentrismus´. Interessant finde ich, wie Shusterman an vielen Stellen mit der doppelten Wortbedeutung von „aesthetic“ als schön und als „wahrnehmend und erfahrend“ spielt. Noch bei Schiller finden wir den Begriff „Ästhetik“ in seiner Ganzheit. Shusterman betont die integrierte Verbindung von „Ästhetik“, Politik und einer Philosophie des Geistes (Schiller, Friedrich, Über die ästhetische Bildung des Menschen Shusterman 2008: 115)
In seinem Kapitel über Simone de Beauvoir äußert sich Shusterman hauptsächlich über deren Klage und Sichtweise zu den „Leiden“ des weiblichen Körpers und des Alters. Vor allem ergänzt er ihre resignierte - auch vom Zeitgeist geprägte - Sichtweise über das Älterwerden und die angeblichen Minderungen von Kraft, Schönheit, Beweglichkeit, Gesundheit und Lebendigkeit. Er zeigt mit der Tiefe feldenkraisischer Bewußtheit, welche Wege es gibt, sich durch innere Arbeit und Achtsamkeit eine andere Schönheit und eine andere Weisheit zu bewahren oder zu erringen. (s. Kap. 9a und Hanna 1994, Nehls 2014)
Bei Wittgenstein analysiert Shusterman den Widerspruch in dessen Körpertheorie. Wittgenstein sieht zwar in der „kinästhetischen Idee“, “dem Bild”, die Voraussetzung für ein adäquates Handeln und in seiner Offenheit für die Bedeutung des Körpers unterscheidet er sich von Mach und Wundt, anerkannten Denkern seiner Zeit, aber er wehrt sich gegen „eine Selbstbetrachtung der eigenen Gefühle“. Ein solches Psychologisieren scheint ihn zu beängstigen. Leidenschaftlich und klar argumentiert Shusterman, daß doch die Philosophie die Aufgabe habe, unsere Selbsterkenntnis zu schärfen, und daß also so hilfreiche Instrumente wie die „somästhetischen Gefühle“ uns nur nützen können für Selbstbeobachtung und Handlung. Was wir öfter an Philosophen bemängeln, regt entsprechend auch Shusterman an: Wir oder die Philsosophen sollten einen Schritt weiter tun in Richtung Praxis. Am Beispiel des Körpers heißt das: Wenn er eine entscheidende Rolle spielt, wenn wir den Körper und unsere Sinnesorgane feiner stimmen - „train this instrument of instruments“ -, können wir unser reales individuelles und soziales Leben verbessern. Der Wert von subtiler Sinnesausbildung liegt in viel mehr als in der Ausübung von Körper- oder anderer Kunst, nämlich in der Bereicherung unseres Denkens und der gesamten Weise und globalen Kunst zu leben, global im doppelten Wortsinn. (Shusterman 2008: 126)
Insgesamt gewinnt man aus dem reichen Schatz philosophischer Übersicht von Shusterman über die „körper-philosophische“ Tradition einen faszinierenden Einblick in die Geistes- und Kulturgeschichte des Westens, die keineswegs ganz des Blickes auf Körper und Bewegung entbehrt. Er zeigt anschaulich und detailliert, wie zwar in der Antike und im alten Asien der Körper eine Wertschätzung als zugehörig zu Kultur und menschlichem Dasein erlebte, aber später in der europäischen Geschichte eine Entwertung erfuhr und erst bei neueren Denkern wieder unter die Lupe genommen und als zentral für das Denken und Lernen und angesehen wird. Ich möchte dazu ergänzen, daß es sich andererseits in differenzierten Analysen, etwa von Feuerstein oder Damasio erweist, daß die Geschichte der sogenannten Spaltung von Körper und Geist oder der Abspaltung des Leiblichen komplex und ungereimt ist. Feuerstein spricht davon, daß sogar in der Yoga-Tradition keineswegs durchgehend von einer Einheit von Körper und Geist ausgegangen wird. Für mich sieht es so aus, daß diese holistische Perspektive nicht im Westen allein, und einfach nur zugespitzt durch Descartes oder die katholische Kirche, zerstört wurde. So macht es Sinn, sie differenziert zu erforschen. Außerdem sind Körper und Geist zwei Seiten einer Medaille, und beim Philosophieren über diese zwei Seiten gerät die Zusammengehörigkeit leicht aus dem Auge, insbesondere bei Schülern und Lesern großer Denker. (Feuerstein, Damasio) Auf dem Fundament dieser Vergangenheit ist es klar, daß sich zwiespältige Ergebnisse in den Haltungen der „Körperphilosophen“ einnisteten und bis heute noch aufrecht erhalten bleiben. Shusterman bezeugt diese Zwiespältigkeit eindrucksvoll, etwa in einem neuen Blick auf Erotik, auf Männlichkeit und Weiblichkeit, auf die menschliche Aufrichtung, auf die Sinneswahrnehmung und auf ein nicht wirklich integriertes Körperbewußtseins. Eine selbstverständliche Einbeziehung körperlichen Denkens und eine wirkliche Wertschätzung steht bis heute aus, sowohl bei der Mehrheit der Denker als auch in der Bevölkerung. Dies ist in den Traditionen Asiens und Afrikas durchaus anders. Diesen Blickwinkel bringt nun Shusterman mit den Forderungen solcher “Kinästhetiker” wie Feldenkrais und Alexander zusammen. Das führt folgerichtig zu der dringenden Aufforderung, den Körper in unsere Gesellschaft auf gesunde Weise wieder „einzuführen“. Den Menschen in den Kontexten von Bildung, Wissenschaft, Medizin und Kultur die Reflexion über ihre Bezieung zum Körper nahezulegen, ihnen ein “körperliches Denken” zu zeigen, das im Leib nicht nur ein Objekt sieht, sondern sich im Leib als Subjekt versteht. Wieviel ist heute die Rede von lebenslangem Lernen oder Stressmanagement! Aber wie? Eine Werkzeugkiste dafür sind unsere Wahrnehmungen der Gesten, Mimik, Bewegungen und der Körpersignale von Atem- und Stimmveränderungen. Doch dazu braucht es die Übung und Aufmerksamkeit. Erst eine solche Selbstbeobachtung und Selbsterkenntnis kann uns veranlassen, den eigenen Zustand und das eigene Verhalten zu ändern. In alten Zeiten verstand man dies unter „Meisterschaft“ oder „Erleuchtung“. Als Beispielthema für diese Verhaltenskorrektur und eine lebenbejahende Einstellung kann man die Geburt ansehen, ein Feld, dessen große Auswirkungen auf die Menschheit ich im Abschnitt a) beschreibe und wofür ich Übungen vorschlage auf www.eva-weissmann.de/Das Glück des Lernens.
Im letzten Kapitel analysiert Shusterman das Werk des Amerikaners Dewey, eines der jüngsten „Körperphilosophen“, und dessen zugleich fortschrittliche und rückschrittliche Sichtweise auf den Körper.
Dewey hat die Einstellung zum Körper als einem Zentrum unseres Lebens von William James übernommen und ist besonders stark von Alexander geprägt. Er war ein Schüler und Freund von Alexander und hat die Aspekte der menschlichen Aufrichtung, der Gewohnheit und der Freiheit in seine Philosophie übernommen. Die aufrechte Haltung des Menschen spielt hier die Hauptrolle, und darin speziell die Kopfhaltung. Der Schauspieler Alexander betrachtet den erhobenen Kopf gleichsam als Symbol der Überlegenheit der menschlichen Rasse und gar des weißen Menschen über den schwarzen Menschen. Alexander versteigt sich hiermit in rassistische Tendenzen und Äußerungen, von denen sich Dewey leider nicht distanziert hat. (Alexander 1932, Alexander 1918) Alexander fokussiert so einseitig auf die vertikale Haltung des Menschen, daß ihm deren Korrektur die Lösung aller Mißstände zu sein scheint. Er stellt eine äußerst demutlose Haltung zur Schau. Der Mensch kann sozusagen alles - er muß nur seinen Kopf korrekt oben halten. Shusterman kritisiert dies als „Gehirn-Zentrismus“ („cephalic-centrism“: Shusterman 2008: 12). Richtig und aufschlussreich ist sicherlich, daß erst die Aufrichtung vieles ermöglichte, was in unserer heutigen Kultur und Zivilisation gipfelt: komplexe Gesten, Werkzeuge, Planen, Sprache, der Umgang mit Zahl und Maß, abstraktes Denken, Kunst, Wissenschaft und Technik. (vgl. in Kap. 8 „Die Kunst zu gehen“) Diese phylogenetische Evolution hat ja ihr ontogenetisches Pendant in der Bewegungsentwicklung des Individuums, besonders im ersten Lebensjahr und in den frühen Jahren: Vom Kopf heben bis zum Stehen und Gehen. Das Balancieren auf zwei Beinen macht uns auch in der individuellen Geschichte frei, mit den Armen, Händen und Fingern sehr feine Gesten auszuüben, und mit dem Stimmapparat für das Sprechen und Singen. Der Zahnmediziner Broich zeigt detailliert den unbestreitbar dichten Zusammenhang zwischen der Halswirbelsäule, der Haltung, vor allem des Kopfes, dem Sprechen, der Stellung von Kiefer und Zähnen und dem freien dynamischen Gebrauch von Körper, Seele und Geist. (s. dazu sein sehr ungewöhnliches Buch mit enormen medizinischen und umfassend menschlichen (Er-)Kenntnissen und vielen Übungen. Man sollte sich an den vielen Druckfehlern und der etwas notizenartigen Schreibweise nicht stossen: Broich )
Shusterman setzt an der politisch und menschlich rückschrittlichen Einstellung von Alexander und ebenfalls von Dewey mit sehr differenzierter Kritik und Genauigkeit an. Und doch wünsche ich mir genau an dieser Stelle - aber auch an anderen - eine klare Unterscheidung zwischen dem, was wir unter Körper verstehen, so lebendig er in seiner Verbindung mit Geist und Seele ist, und dem Phänomen „Bewegung“. In Shusterman´s Denken spielt sein Feldenkrais-Fundament eine zentrale Rolle, und das Konzept von Feldenkrais kreist um das Dynamische und die Interaktion mit der Welt: der aufrechte Gang ist ein Gehen und keine Haltung. Er verpflichtet zur Öffnung für die Umgebung, zur Ausschöpfung des eigenen Potentials, um sein Leben erfüllt für sich selbst und in der Begegnung zu leben. In der Feldenkrais-Methode wird nicht korrigiert, sondern eine Umgebung für den Schüler kreiert, in der er leicht lernen kann. Nicht der Kopf ist im Zentrum, wenn schon das Becken und die Wirbelsäule. Es geht aber nicht um eine Hierarchie von Zentren, sondern um eine dynamische Konzeption und Sicht auf unser zirkuläres somatisches System. Könnte es sein, daß die einseitige Ausrichtung auf die vertikale Haltung zu dieser starren und totalitären Sicht von Alexander führt, wogegen ein Abwägen und freies Anbieten von Alternativen, wie wir das bei Feldenkrais sehen, auch zu anderen menschlichen Perspektiven hinlenkt? Oft muß innere Veränderung selbst gewollt werden, und Veränderung ergibt sich nachhaltiger aus der Selbsterziehung als aus der Korrektur durch einen anderen Menschen, wie in der Alexander-Technik praktiziert. Echte Veränderung, also Lernen, geschieht gleichzeitig außen und innen. Leider gebraucht Shusterman Körperbewusstheit und kinästhetisches Spüren fast synonym. Aber „propriozeptiv“ und „kinästhetisch“ ist zweierlei. Und was ist nun „somaesthetisch“? Beides? Hier gibt es Unklarheit und Verwirrung in Shustermans Texten. (Shusterman 2008: 117,122 und passim) Das ist schade, da er uns so viel zu bieten hat, wie etwa eine Verbreitung seiner „Somaesthetics“ in die reale Schule hinein, in die Gesellschaft und in das Leben aller Menschen. Sein Zusammenführen von geisteswissenschaftlichem Denken und leiborientiertem Wissen ist wichtig. Shusterman schließt seine vergleichenden Untersuchungen damit ab, daß für ihn eine Kultur, die durchdrungen ist von „somästhetischem“ Spüren und somatischem Lernen Menschen hervorbringen wird, die ihren Körper in engem Zusammenhang mit der Natur und der Gesellschaft verstehen. Sie werden sich durch ihr körpergeprägtes Denken für ökologische und soziale Bedürfnisse aller Menschen einsetzen.
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